Eröffnungsrede zur Ausstellung
„Gesine Kikol: Im Garten der Lüste“
Kunstraum Holzmann, Kirchheimbolanden, 2016
Günter Minas
Meine Damen und Herren,
ich brauche es Ihnen nicht zu sagen: Wir feiern das Hieronymus-Bosch-Jahr, genauer: wir begehen allerorten den 500sten Todestag dieses geheimnisvollen Malers, vor allem mit einer großen Ausstellung im Prado in Madrid. Und wenn Sie in die Medien schauen, finden Sie schnell ein Pressefoto, das die spanische Königin Letizia bei der Eröffnung vor dem berühmtesten Bosch-Bild zeigt, dem „Garten der Lüste“, mit großen Augen und in einer vorgebeugten Haltung, die höchstes Interesse verrät und den Wunsch, möglichst viele Einzelheiten auf diesem Wimmelbild zu erkennen. Und damit repräsentiert die königliche Dame mit dem schönen Namen – laetitia, lateinisch die Freude, die Fröhlichkeit – genau die Form von Betrachtung, zu der uns der Maler herausfordert, geradezu verführt.
Ich werde mich, muss mich ab und zu auf dieses historische Gemälde beziehen, denn die Malerin Gesine Kikol tut es offensichtlich auch. Wenn Sie es sich anschauen wollen und nicht nach Madrid kommen, empfehle ich Ihnen eine Website, die das Bild in einer derartig hohen Auflösung erwandern lässt, dass man jede kleinste Szene, jeden Haarriss in der Farbhaut, jeden feinsten Pinselstrich erkennen kann. Selbst Letizia kam nicht so dicht an das Bild heran, da wären schon sämtliche Alarmsirenen des Prado angesprungen. https://tuinderlusten-jheronimusbosch.ntr.nl/en
Was ist auf Boschs „Garten der Lüste“ zu sehen? Das dreiteilige Gemälde, etwas über zwei Meter in der Höhe und fast vier Meter in der Breite messend, zeigt auf einem linken Flügel das irdische Paradies mit Gott, Adam und Eva, umgeben von Tieren und Pflanzen, auf dem rechten die Hölle und auf dem Mittelteil das Hauptmotiv, das dem Werk, das wie ein Altarbild auftritt, aber keines ist, den Namen gegeben hat, den Garten der Lüste. In unendlich vielen Szenen bis hin zu kaum wahrnehmbaren Miniaturen sehen wir eine Gartenlandschaft mit Seen, in der sich entblößte Männer und Frauen einem lustvollen Treiben hingeben, auch hier umgeben von Vögeln und anderen Tieren, auch von überdimensionalen Früchten. In diesem vielteiligen Universum kann ein Betrachter sich verlieren, darin ähnelt das Bild den Arbeiten von Pieter Breughel d. Ä., der etwa 10 Jahre nach Boschs Tod geboren wurde und sich auch ausdrücklich auf ihn bezogen hat.
Gesine Kikols große Bilder mit dem Titel „Im Garten der Lüste“ – wir haben uns also vielleicht schon in die Szenerie hineinbegeben – sind nicht ganz so unübersichtlich, weisen aber die gleiche Konstruktion auf: in die Tiefe gestaffelte kleine Szenen in einer angedeuteten grünen Landschaft, die in einer Hügelkette endet, und von blauem Himmel überwölbt ist.
Aber Kikols kleine Szenen sind eindeutig. Bosch ist nicht explizit, er zeigt uns Berührungen, Zärtlichkeiten, Tänze, Blicke, Spiele, auch in Gruppen – übrigens zwischen den blassen und etwas ätherischen Gestalten auch zwei, drei sehr dunkle Afrikaner – also etwas, das man vielleicht mit Tändelei bezeichnen könnte. Bei Gesine Kikol aber geht es zur Sache. Paare beim Geschlechtsverkehr werden uns vorgeführt. Und hier stock ich schon. Ja, vorgeführt werden sie. Nicht romantisch verklärte Liebesszenen, nicht ästhetisch überhöhte Akte sind zu sehen, sondern Paare bei der Verrichtung des Beischlafs.
An dieser Stelle sollte man sich den Klang der Wörter vergegenwärtigen:„Beischlaf“– undeutliche Umschreibung,
„Kopulation“ – wie aus einem technischen Lexikon,
„Geschlechtsverkehr“ – Juristensprache,
noch schlimmer: „Geschlechtsakt“, ein Wort wie aus einem Gerichtsprotokoll.
Um Sie nicht über die Maßen zu provozieren, verzichte ich auf die Ihnen allen bekannten, landschaftlich geprägten und dem Wandel der Zeit und der Sprache unterliegenden teils sehr farbigen Ausdrücke aus der Vulgärsprache für das, was hier gemeint ist.
Das Wort, was mir zumindest für Bosch am besten gefällt, ist: Liebesspiele. Und auch wenn Sie sich wie Königin Letizia weit vorbeugen oder auf der genannten Website dicht an das Gemälde heranzoomen, werden Sie bei Bosch kaum Obszönitäten finden, nur „Liebesspiele“.
Was finden Sie bei Kikol: „Leibesübungen“, auch ein schönes, und wenn man will, mehrdeutiges Wort. Denn die Malerin zeigt uns, wie man’s macht, oder machen könnte, zumindest wenn man sich an das ehemals gängige Genre der Stellungsbücher hält. Ich weiß gar nicht, ob es so etwas heute noch gibt. Aber ich weiß, dass in der ersten Veröffentlichung dieser Art, nicht lange nach dem Krieg von der Gründerin eines bekannten einschlägigen Versandhauses in meiner Heimatstadt Flensburg herausgegeben, die Paare in Ganzkörpertrikots abgebildet waren, ohne einen Millimeter Haut außerhalb des Gesichts. Es ging um die Belebung oder Wiederbelebung der Sexualität nach 12 Jahren Lustfeindlichkeit, es ging um etwas, das man damals „Ehehygiene“ nannte. Bei der „Mutter Courage des Tabubruchs“, für die ich als zarter Abiturient die Gelegenheit hatte, zwei Monate vor dem Studium zu jobben.
Also Stellungsbücher. Und in der Tat stammen die Turnanweisungen, die uns hier vorgeführt werden, aus diesen Quellen. Genau abgezeichnet, mit dem Beamer je nach Größenperspektive auf die Leinwand projiziert, mit dem Bemühen um anatomisch-physiologische Genauigkeit. Wenn sein Knie hier oben ist, passt es nicht. Um so etwas geht es. Und anonym sind diese Gestalten, wie in den Stellungsbüchern. In den Zeiten der sexuellen Befreiung wurde viel über die Technologisierung des Sexuallebens diskutiert.
So dass man fragen kann: Ist das nun ein Garten der Lüste? Mir scheint fast, auch auf die Bilder von Gesine Kikol könnte man die jahrzehntelange Diskussion um die Interpretation von Bosch übertragen.
Die einen sagen: es ist eine Art Anleitung für das Gelingen des Liebesspiels und einer erfolgreichen Ehe – Bosch würde hier ein Bild davon zeichnen, wie er sich offenbar ein ideales Paradies vorstellte, in dem Mensch und Tier in Frieden und in Freude miteinander leben. In einem “Garten der Lüste” haben Liebe und sogar Erotik ganz selbstverständlich ihren Platz, es herrscht eine harmonische, unaggressive Stimmung. Sexualität wird als von positiven Emotionen getragenes, behutsames Spiel betrachtet.
Die anderen fragen: Ist das wirklich ein Idyll? Auf den ersten Blick wirkt “Der Garten der Lüste” wunderbar bunt und phantasievoll. Bei näherer Betrachtung aber wird das Gemälde zum Abbild der Begierde, der Sünde. Ein Teufelswerk, ein „Falsches Paradies“ – entsprechend der damaligen Moralauffassung. Es ist nicht die Erfüllung des Gottesgebots: Seid fruchtbar und mehret Euch und macht Euch die Erde untertan, sondern es geht um reine Lust, die also verwerflich ist und zwangsläufig in die Hölle führt, also in das auf dem rechten Seitenflügel dargestellte Inferno.
Also ein hedonistisches „Carpe diem“ (Genieße den Tag) oder eine Angst vor den Folgen? War Bosch Zyniker, Freigeist, Moralist oder vielleicht ein Irrer?Vielleicht verkörpert Boschs Gemälde beide Seiten: einen gigantischen Alptraum zwischen Idylle und Düsternis.
Lassen wir es dabei bewenden, denn es geht ja hier um Gesine Kikols Bilder. Sie hat ihren Bildern weder ein Paradiesmotiv voran- noch ein Höllenmotiv hintangestellt.
Vielmehr hat die Malerin einzelne Elemente des von Bosch erdachten Universums herausgegriffen und betont, sozusagen zu Hauptdarstellern gemacht.
Ich will Sie jetzt nicht mit Symboldeutungen konfrontieren, denn die klassische kanonisierte Ikonographie half nur bis zur Befreiung der Malerei vom Auftraggeber und damit vom vereinbarten Bildprogramm bei der Interpretation. Gesine Kikol malt ja nicht für einen Fürsten, der zur Erbauung bestimmte Motive fordert, wie es Bosch gewohnt war, sondern sie greift frei in das ihr zur Verfügung stehende Bild- und Gedankenmaterial, und sei es auch kulturell vielfältig mit Bedeutung und Geschichte aufgeladen.
Die Stellungsbücher als Bildersteinbruch unserer Zeit habe ich schon genannt. Im weiteren geht es weniger um Symbole als um Begriffsfelder, Assoziationen, bekannte Bildwelten, Zitate, also um alles, was wir mit bestimmten Gegenständen, Wörtern und Themen verbinden, individuell und kollektiv.
Der Hase: Eigentlich malt Kikol Kaninchen, ich weiß auch nicht, warum das immer verwechselt wird, denn die beiden Tiere sind stammesgeschichtlich nur entfernt verwandt. Sei es drum. Immer schon Symbol für ungezügelte Sexualität und auch Fruchtbarkeit, erleben wir auch heute diese Tierchen in diesem Sinne. Noch ein schönes Wort dafür, was Hasen und Kaninchen tun: Sie rammeln, hier tun sie es intensiv. Vielleicht denkt man auch an die Komödie Mein Freund Harvey, bei dem es um einen eingebildeten lebensgroßen weißen Hasen geht.
Die Kröten oder Frösche. Auch sie rammeln, und sie werden von der Malerin schon eher als Karikatur dargestellt, ähnlich schemenhaft wie die Liebespaare. Bei Bosch sind sie oft Mischwesen zwischen Mensch und Tier, und wenn man doch die altertümliche Symbolik bemühen will, sind sie eine Reflektion menschlicher Gier und Triebhaftigkeit. Auch bei heutigen Zeitgenossen haben Kröten einen unverdient schlechten Ruf, Frösche schneiden da schon besser ab.
Das Einhorn, das Fabelwesen mit langer Geschichte durch viele Kulturen. Für uns heute ein Relikt aus vergangener Sagen- und Legendenwelt ohne spontane Bedeutungszuschreibung. Wie viele Tiere und Pflanzen hatte es zweiseitige Symbolkraft, positiv und negativ, das müssen wir jetzt nicht vertiefen. In die aktuelle Bilder- und Gedankenwelt wurde es zurückgeholt durch den Fantasyroman „Das letzte Einhorn“, der auch verfilmt wurde. Dieses Stichwort war auch die Antwort der Malerin, als ich sie nach dem Fabeltier fragte. Das letzte Einhorn hat keine Partnerin mehr, es ist gezwungen zu masturbieren, und das zeigt Kikol uns überdeutlich – wie übrigens auch bei manchen weißen Hasen, denen es allerdings an Rammelpartnern nicht mangelt, wenn man die Kikolsche Lustlandschaft überschaut.
Die Früchte und Pflanzen. Wie bei Bosch tauchen in Kikols Bildern überdimensionierte Erdbeeren auf. Ehemals Sinnbild für Demut, Bescheidenheit, auch das vergossene Blut Christi, aber auch für die Verführung zur Sünde und Verdammnis, für Versuchung und Sterblichkeit, sind sie für uns heute vor allem ein frühsommerlicher Genuss von hoher Sinnlichkeit. Um wieder die Sprache zu bemühen: Man denke nur an das ganz unvegetarische Wort Fruchtfleisch. Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Ebenfalls mit Genuss verbunden: die Pilze, von der Malerin hauptsächlich als umrahmender Vordergrund und Behausung der Frösche eingesetzt. Assoziationen wie kompliziert, samtig, zerbrechlich, kühl, wohlschmeckend vs. giftig, aber auch halluzinogen mögen sich einstellen.
Auch das hat alles mit sinnlichen Genüssen zu tun, gehört also in den Garten der Lüste. Sinnlichkeit und die Sinne. Das Sehen, das Entschlüsseln, den Voyeurismus haben wir schon angesprochen, ich verweise nochmal auf die spanische Königin, das Schmecken und Verzehren ebenfalls, aber nicht vergessen darf man das Fühlen, das Tasten, das Anfassen, wenn auch vermittelt durch das Bild, also den Sehsinn.
So wie Bosch seinen schier grenzenlosen Einfallsreichtum mit malerischer Meisterschaft in den Details gepaart hat, so spürt man bei Gesine Kikol die Lust an der Malerei. Die Haut, die Konsistenz des Sujets ist immer mitgemeint und mitgemalt, ob wuschelig und pelzig weich wie bei den Hasen, ob saftig feucht wie bei den Erdbeeren oder vermeintlich glitschig, in Wahrheit zart wie bei den Kröten. Da führt der Pinsel dann auch mal ein Eigenleben und tendiert zur Abstraktion, wenn auch – das betont die Malerin – es ihr immer um das Motiv, also den Bildgegenstand geht.
Viel ließe sich noch sagen – und vor allem fragen, denn Gesine Kikol ist ja hier bei uns.
Nur eins noch zum Abschluss: Als ich den Auftrag bekam, etwas zu den Bildern dieser Ausstellung zu sagen, war ich – zugegeben – zumindest erstaunt und sogar etwas befremdet, vor dem Hochbunkerähnlichen Gebäude einen Leichenwagen vorzufinden und dann auch noch von der alltäglichen Funktion dieses Raumes als Sarglager zu hören. Und darüber fast noch tonnenweise Getreide zu vermuten.
Aber wo sonst als hier? In der Geschichte, möchte fast sagen Aura dieses Hauses treffen sich Getreide, Grundnahrungsmittel, Lebensmittel und der Tod. Kreislauf des Lebens, zu dem die Sexualität, das Geschlechtlich, die Fortpflanzung gehört.
Vielen Dank.
Günther Minas, Mainz, 2016