Tatjana Nicholson, Medien- und Kulturwissenschaftlerin M.A., 2024
Hüttenzauber – Zauberhütten oder: Kultur vs. Natur?
Alles begann im Jahr 2006 während eines Artist-in-Residence-Stipendiums im hohen Norden Finnlands. Dort entdeckte Gesine Kikol ihre Faszination für das Motiv der Hütte, die als Mökki oder Saunahaus vereinzelt in der Landschaft am See und in den weitläufigen Birkenwäldern zu finden ist. Wie verzaubert malte sie eine Hütte nach der anderen. Die „Urhütte“ war ein malerisches Porträt einer landestypischen Schwitzhütte. Seitdem hat das Thema die Künstlerin nicht mehr losgelassen. Zwischen 2019 und 2024 schuf sie zahlreiche Serien, die sich intensiv mit dem Sujet der Hütte auseinandersetzen.
Von der Schwitzhütte zur Liebeshütte….
In ihrer Serie „Love Shacks“ aus dem Jahr 2019 greift Gesine Kikol auf Themen, Inhalte, Zeichen- und Formensprache zurück, die ihre Arbeit seit jeher charakterisieren: Mensch und Tier, Leben, Liebe, Lebenslust, das Werden und Vergehen in der Natur, Eros und Thanatos. Sie setzt die natürliche und unschuldige, fröhliche Sinnlichkeit liebender Lebewesen künstlerisch um, seien es Rentiere, Eichhörnchen, Hasen oder Menschen, die sichmiteinander vergnügen. Genuss, Lebensfreude, Heiterkeit, „das Schmunzeln des Pan“ lässt sich in ihren Naturdarstellungen erkennen. Farbakzente in warmem Rot, Schwefelgelb, Goldgrün und Rosa betonen die entspannte, ausgelassene Atmosphäre der Darstellungen. Auch Referenzen auf den kunsthistorischen Kanon fehlen nicht, wie beispielsweise die feministische „Übersetzung“ von Manets „Le Déjeuner sur l’herbe“ (1863): die Künstlerin zeigt ausschließlich nackte Frauen in natürlichen Posen beim entspannten Zusammensein in der ungezähmten Natur. Im Vergleich zum Original sind sie von der Kultiviertheit der Bekleidung ebenso befreit wie von einem beobachtenden „männlichen Blick“ – hier regiert ein „weiblicher Blick“, mit einem Augenzwinkern und frei von Konventionen.
Die Serie „Love Shacks“ („Liebeshütten“) zeugt von Liebe zur und in der Natur, Lust und Vergnügen stehen hier im Mittelpunkt. Motive aus ihren Reisen durch Finnland, wie die typischen Holzhütten, Fauna und Flora wie Eichhörnchen, die Pilze und die Birkenwälder charakterisieren auch diese Serie.
zur „Elfenbeinhütte“ hoch im Baum…
In ihrer Serie „Baumhäuser“ (2020), die sie in Anspielung auf den Elfenbeinturm als Rückzugsort und die „Bodenständigkeit der einfachen Holzkonstruktion“ auch Elfenbeinhütten1 nannte, stellt die Künstlerin ihren idealen und idealisierten Arbeitsort dar: sie zeichnet steil in den Himmel ragende märchenhafte Baumhäuser, die von den riesenhaften, fantastisch anmutenden Pflanzen der Umgebung noch überragt werden. Sie malt magische Hütten auf hohen Stelzen mitten im Wald, erreichbar nur über hohe Holztreppen oder -leitern, umgeben von fantastischer, wild wuchernder, gigantischer Vegetation, die durch den schnellen Strich und dynamischen Duktus an einen rasant wachsenden Dschungel erinnert. Fast erwartet man bei der Betrachtung, dass sich das Bild verändert, weiterwächst, vom Malgrund in den Raum hinein! Diese Hütten wirken lebendig, als hätten sie ein Eigenleben, sie scheinen größer zu werden oder sich zu bewegen – sie lassen an gestaltwechselnde Environments denken, die wir aus Erzählungen wie „Alice im Wunderland“ kennen. Sie sind un-heimlich2 heimelig, sie sind safe space und Abenteuerort zugleich – der perfekte Rückzugsort für kreative Prozesse!
…zur universellen Schutzhütte….
Eine neue Phase der magischen Hütten markierte die Serie „Cabin Porn“, die Gesine Kikol 2020 während des ersten Lockdowns in der Covid-Pandemie geschaffen hat. Das Haus oder das Heim war in dieser un-heimlichen3 Zeit unsere (teilweise erzwungene) Zuflucht, ein ambivalenter Ort der Sicherheit und der räumlichen Einschränkung. Aber auch in der Natur suchte man Zuflucht und Zerstreuung: Spaziergänge im Grünen wirken ganzheitlich gesundheitsfördernd. Das wurde sogar wissenschaftlich nachgewiesen4. Das menschliche Heim in der Natur ist die Hütte – eine einfache Unterkunft ohne besonderen Komfort, meist schnell gebaut, die ihre Bewohner:innen vor Wind, Wetter und wilden Tieren schützt. Kultur in der Natur. Die Hütte ist zunächst einmal ein „bedeckter Schutzort“5. Aber sie ist auch ein Ort der Freiheit, einsam mitten in der Wildnis. Sie lässt uns Menschen als Bewohner Teil des Ganzen sein.
Gesine Kikol machte aus der Not dieser Zeit eine Tugend und „baute“ ihr künstlerisches Konzept weiter aus. Ihre Inspiration erhielt sie bei ihren Recherchen im Internet und aus Büchern zu Hütten(formen) aus aller Welt, vom Nordpol bis zum Südpol – ihre Auswahl an Sujets ist groß: sie zeichnet u.a. Iglus und Torfbauten, Hütten in den Slums und Favelas in Lateinamerika, Baumhaus-Hotels in Deutschland, Forschungsstationen in der Arktis und Antarktis, asiatische Tempel, Zelte aus den unterschiedlichsten Materialien, Lost Places, Gewächshäuser, Palmen- und Strandhütten in der Südsee6. So wie die Pandemie die ganze Welt zum Stillstand brachte, wie Fotografien menschenleerer Straßen und Plätze aus dieser Zeit beweisen, so still, aber auch stabil und protektiv wirken die mit energischem Strich gezeichneten Hütten in rot und schwarz aus dieser Serie. Die Künstlerin schreibt, die Arbeit an dieser Serie habe ihr durch die Isolationsphase geholfen. Zudem ist die Serie ein Verweis darauf, dass alle Menschen auf dieser Welt durch das gemeinsame Durchleben dieser Situation in ihrer Einsamkeit dennoch universell verbunden sind. „Bleibt zuhause und zeichnet!“ war das Mantra dieser Phase.
… zurück (?) zum Paradies?
2024 begann Gesine Kikol ihre neueste Serie der „Palmenhütten“. Die Farbakzente erinnern an ihre Serie „Love Shacks“, die Konstruktionen der Hütten an die Serie der „Elfenbeinhütten“ oder Baumhäuser, und die exotische Fauna und Flora verweist auf ihre Darstellungen von tropischen Strandhütten aus der Serie „Cabin Porn“. Manche dieser paradiesischen Hüttenkonstruktionen stehen auf himmelhohen schlanken Stelzen, die wie Palmenstämme wirken, andere haben pagodenförmige Dächer, von denen sich kaskadenartig üppige Blumen und Pflanzen wie festliche Girlanden hinabwinden. Alles lebt, grünt und blüht, wuchert und wächst. Vögel nisten auf den Dächern dieser Hütten wie ein lebendiger Beweis für das Potenzial von Harmonie zwischen Kultur und Natur. Aus der Perspektive der Betrachtung steht man am Boden, mitten im Dschungel, und sieht diese traumhaft erhabenen, sich in höchste Höhen erhebenden Hütten aus weiter Ferne – selbst die Vögel sind nur als Silhouetten erkennbar. Menschen sind jedoch auch hier nicht zu sehen.
Die Welt, in der sich diese Hütten befinden, ist wieder „in Ordnung“ – keine Kriege, keine Klima- oder sonstigen Krisen sind hier existent. Hier herrscht Schönheit im Überfluss, vollkommene Harmonie. Es gibt keinerlei Störfaktoren. Doch wo sind diese Hütten zu finden? In Utopia? In Arkadien?
In den Hüttenserien von Gesine Kikol sehen wir kein Arkadien, kein „Hirtenidyll“, das seinem Wesen nach auf der Kultivierung von Natur und (Nutz-)Tier beruht, sondern eine Art zauberhaftes „Paradies auf Erden“, wo Menschen und Tiere nebeneinander als Teil der Natur mit dieser harmonisch im Einklang leben. Die einzige Spur von Kultur, die Hütte, fügt sich ins Gesamtbild ein und verbindet sich mit ihrer Umwelt. In einer der Ausgaben von Kunstforum International7 wird suggeriert, dass sich Arkadien ohnehin bereits in der Krise befindet. Doch sollte Arkadien dem aktuellen Zeitgeist der Kriege und der Krisen zum Opfer fallen, bleiben uns Gesine Kikols Zauberhütten. Denn Krisenzeiten sind Teil unserer menschlichen Geschichte. Es ist uns Menschen immer wieder, allen Widerständen zum Trotz – ob selbstgeschaffen oder durch höhere Gewalt entstanden – gelungen, unser natürliches Umfeld zu bewahren oder neu zu erschaffen. Felix Guattari hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Ökosophie geprägt – die „ethisch-politische Verbindung zwischen den drei ökologischen Bereichen von Umwelt, sozialen Beziehungen und menschlicher Subjektivität.“ Er denkt hier die Wurzel öko in der ursprünglichen griechischen Bedeutung: oikos – das bedeutet Haus, Habitat, natürliches Umfeld8. Hier findet sich die Referenz zu Gesine Kikols Häusern im wilden Paradies oder zu den Hütten im kultivierten (?) Garten Eden. Gemäß Guattari sei es die Kunst des Öko, durch seine Lebenspraxis9 (des Bewohnens) das Mittel zur Domestizierung zu sein und so zur Kultivierung der menschlichen Umgebung zu dienen. Doch eine Unterordnung der Natur durch menschliches Handeln ist in Gesine Kikols Werk nicht existent. In der Serie „Love Shacks“ finden wir ein gleichberechtigtes Neben- und Miteinander von Mensch und Natur. Die Serien „Elfenbeinhütten“ und „Cabin Porn“ zeigen uns zwar keine Menschen – sie haben sich zurückgezogen in ihre Schutzhütten – doch ihre Umgebung ist friedlich und voller Leben. Sie sind in Sicherheit. In den „Palmenhütten“ sind die Menschen ebenfalls nicht sichtbar – doch diese Hütten wirken eher wie ein menschlicher Traum, sie sind nicht von dieser Welt. Sie sind zauberhafte verzauberte Sehnsuchtsorte.
Wenn die Welt sich „zu schnell“ (oder zu langsam…) zu drehen scheint, wenn man inneren Abstand braucht, um sich zu sammeln, dann denkt man sich in eine von Gesine Kikols Zauberhütten hinein. Sie stehen nicht für einen menschlichen Eroberungskampf gegen die Natur, sondern für eine funktionierende Verbindung von Kultur und Natur, für magische Syntropie, für Frieden und Geborgenheit. Sie gewähren uns die Chance zur Reflexion über die Verbindung des Ganzen und des Selbst und gleichzeitig zum Selbstvergessen. Die Künstlerin lädt ihr Publikum ein, die eigene (Zauber-)Hütte „zu beziehen“. Zum Beispiel als schön gerahmtes Kunstwerk an der auffälligsten Wand im eigenen Zuhause!
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1 Vgl. KIKOL, Gesine, eigener Text zur Serie, 2020.
2 Vgl. FREUD, Sigmund, Das Unheimliche, Frankfurt am Main 1963, S. 261.
3 Vgl. FREUD, Ebd.
4 Vgl. KOBAYASHI, Hiromitsu / SONG, Chorong / IKEI, Harumi / PARK, Bum-Jing, Forest Walking Affects Autonomic Nervous Activity: A Population-Based Studyin: Frontiers in public health, URL: https://www.frontiersin.org/journals/public-health/articles/10.3389/fpubh.2018.00278/full (20. Juli 2024).
5 Vgl. PFEIFER, Wolfgang, „Hütte“, in: PFEIFER, Wolfgang et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, URL: https://www.dwds.de/wb/etymwb/H%C3%BCtte, (20.07.2024): Auszugehen ist wohl von einer Grundbedeutung „bedeckter Schutzort“. Aus dem Hd. stammen mnd. hütte, huette, nl. hut (woraus schwed. hytta) sowie afrz. hute, frz. hutte (woraus engl. hut).
6 Vgl. KIKOL, Gesine, eigener Text zur Serie, 2020.
7 Vgl. GÜNZEL, Ann-Kathrin: Arkadien in der Krise. Zur Aktualität des Landschaftsbildes in: Kunstforum International, Bd. 248, 2024, Kunstforum International (Firm). Kunstforum International. URL: https://www.kunstforum.de/band/2022-284-arkadien-in-der-krise-zur-aktualitaet-des- landschaftsbildes/ (30.07.2024).
8 Vgl. GUATTARI, Felix: Die drei Ökologien, Wien, 1994, S. 73.
9 Vgl. Ebd., S. 49.
Tatjana Nicholson, Medien- und Kulturwissenschaftlerin M.A., 2024